Polle (r). Die Anwesenden in der Poller Grundschule waren erschüttert. Denn die direkte Konfrontation mit dem Schicksal ehemaliger jüdischer Mitbürger in unmittelbarer Nachbarschaft während der nationalsozialistischen Zeit hinterläßt einen viel tieferen Eindruck als die aus Büchern oder in der Schule erlernte „große“ Geschichte. Bernhard Gelderblom hat in einem Vortrag der Kreisvolkshochschule Holzminden über ein weitgehend vergessenes Kapitel der Ortsgeschichte, dem jüdischen Leben in Polle, lebendig referiert. Der Historiker schlug dabei einen Bogen von der frühen Neuzeit an bis zur Deportation der letzten jüdischen Mitbürger des Fleckens in die Konzentrationslager. Auch ein Zeitzeuge einer Deportation in der NS-Zeit war anwesend und schilderte seine Erlebnisse.
Gelderblom verwies auf Quellen, nach denen die ersten beiden jüdischen Familien in Polle ab 1671 nachweisbar sind. Sie mussten wie bis in das 19. Jahrhundert üblich für Schutzbriefe zahlen, um überhaupt in der Gemeinde wohnen zu dürfen. Land- und Hausbesitz war für Juden zunächst verboten. Erst 1829 ist ein Kaufvertrag für ein Haus durch den „israelitischen Handelsmann und Schutzjuden“ Heinemann Lehmann überliefert. Gemäß den gesetzlichen Bestimmungen des Königreichs Hannovers durfte er das Haus jedoch nicht ohne spezielle Erlaubnis an einen Juden weiterverkaufen oder an seine Angehörigen vererben. Auch war es Juden untersagt, „Ausländer“, z.B. aus dem angrenzenden Braunschweiger Land als Knechte zu beschäftigen. Die meisten Berufe, beispielsweise im Handwerk, waren für Juden verboten. Von der Ausübung politischer Rechte in Staat und Gemeinde wurden die Juden ausgeschlossen. Mitte des 19. Jahrhunderts wohnten sechs jüdische Familien in Polle. Sie lebten in ärmlichen Verhältnissen. Drei der Familien konnten keine Steuern zahlen. Erst mit dem Ende des Königreichs Hannover in 1867 erhielten Juden dann die Gleichberechtigung.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der jüdischen Familien in Polle wieder zu. Manufakturwarenhändler wie die Gebrüder Hodenberg oder Julius Nachmann aus der Marktstraße 11 und 9 waren im Ort geachtet. Das Zusammenleben im Ort verlief harmonisch. Ein jüdischer Betsaal ist ab 1842 nachweisbar. Im Hause Burgstraße 12 waren dafür zwei große Räume angemietet worden. Eine eigene jüdische Elementarschule oder gar eine Religionsschule konnten in Polle nicht realisiert werden. Waren 1909 noch 15 Personen jüdischen Glaubens im Ort verzeichnet, so lebte ab 1912 nur noch eine Familie im Ort, die Familie Max Nachmann. Im Bewusstsein der heimischen Bevölkerung sollen die Nachmanns bis 1933, so Bernhard Gelderblom, gar nicht als Juden präsent gewesen sein.
Die Geschichte der Familie Nachmann
Da sein Sohn das väterliche Geschäft in Polle nicht übernehmen wollte, wurde der Angestellte Wilhelm Klages Ende 1922 zum Geschäftsteilhaber von Max Nachmann. Im Sommer 1935 übernahm Klages dann auf Bitten von Nachmann als Alleininhaber die Modewarenhandlung in der Burgstraße 27, um das Geschäft vor den sonst üblichen Boykotten zu schützen. Max Nachmann lebte mit seiner Frau Minna in der über dem Geschäft gelegenen Wohnung. Klages, der deswegen in Polle als Judenfreund angegriffen wurde, hat das Ehepaar auch finanziell unterstützt. Angestachelt von der Nazi-Propaganda warfen am 9. oder 10. November 1938 Poller Bürger, darunter auch etliche Kinder, die Fensterscheiben der Nachmannschen Wohnung ein und verwüsteten diese. Die Eheleute wurden im Gefängnis in Bodenwerder inhaftiert, am nächsten Tag allerdings wieder frei gelassen. Bernhard Gelderblom konnte sogar die Liste zeigen, was den Beiden bei ihrer Verhaftung an Gegenständen abgenommen wurde. Einige Zeit später zog Julius Rothenberg aus Dassel zu seiner Schwester Minna und deren Mann nach Polle. Die Drei haben ärmlich und völlig zurückgezogen gelebt. Doch sie besaßen noch einige Freunde, die sie unterstützten. 1940 erkrankte Max Nachmann so schwer, dass er im israelitischen Krankenhaus in Hannover operiert werden musste, wo er dann verstarb. Minna Nachmann und ihr Bruder Julius wurden im Juli 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert, wo sie noch im gleichen Jahr verstarben. Aus anderen Orten in Deutschland wurden folgende Juden deportiert und ermordet, die in Polle geboren waren: Marta Hodenberg, Julius Nachmann, Johann Langstadt, geb. Hodenberg, Emil Rosenstern und Else Sternberg, geb. Nachmann.
Die verschwundenen Grabsteine
Zum Schluss seines Vortrags ging Bernhard Gelderblom noch auf den jüdischen Friedhof in Polle ein. Dieser liegt auf dem Birkenberg unterhalb der ehemaligen Jugendherberge. 40 bis 50 Grabsteine sollen laut Aussagen von Zeitzeugen dort gestanden haben. Die Einfriedung bestand aus großen aufrecht stehenden Sandsteinplatten. Im November 1938 wurde der Friedhof von der örtlichen SA zerstört, die zahlreiche Steine abgefahren hat. Über den Verbleib der Grabsteine ist bislang nichts bekannt. Heute ist der Friedhof von einem Holzzaun umgeben und lediglich ein Gedenkstein des Landesverbands der jüdischen Gemeinden in Hannover weist auf die ursprüngliche Nutzung hin. Friedhöfe haben nach jüdischem Glauben jedoch Ewigkeitsbestand. Bernhard Gelderblom bat daher die Bevölkerung um Hinweise, wo jüdische Grabsteine „weiterverwendet“ wurden und heute noch erhalten sind. In anderen Orten der Region konnten so Grabsteine, die als Brücke oder Bodenbelag einer Scheune genutzt wurden, wieder auf jüdischen Friedhöfen aufgestellt werden.
In der abschließenden Diskussion zum Vortrag wurde auch vorgeschlagen, ein ausführlicheres Informations-Schild am Friedhof anzubringen sowie eine Ausschilderung im Ort zum Friedhof vorzunehmen.
Foto: Sammlung Gelderblom