Landkreis Hameln/Bad-Pyrmont (red). Die Energielandschaft in Deutschland verändert sich rapide. An Silvester 2021 gingen drei Atomkraftwerke vom Netz: neben Brokdorf in Schleswig-Holstein und Gundremmingen in Bayern wurde auch Grohnde im Landkreis Hameln-Pyrmont stillgelegt. Ein Jahr später werden Lingen in Westniedersachsen, Essenbach in Bayern und Neckarwestheim in Baden-Württemberg folgen. Dann ist die Stromproduktion via Kernkraft in Deutschland Geschichte. Für die betroffenen Gemeinden und Landkreise, aber auch für die Bevölkerung, die Infrastruktur und Zukunft der AKWKommunen bleiben aber Stand Januar 2022 zahlreiche entscheidende Fragen offen. Vor allem bei der Zwischen- und Endlagerung der radioaktiven Abfallprodukte sind zentrale Fragen auch zur Sicherheit längst noch nicht beantwortet. Zum heutigen Zeitpunkt ist von einer jahrzehntelangen Übergangsphase auszugehen. Gründe genug für den Landrat des Kreises Hameln-Pyrmont, Dirk Adomat, vorsorglich den Finger zu heben und die Bundespolitik in die Pflicht zu nehmen.
AKW-Standorte werden benachteiligt
„Ich sehe eine große Unausgewogenheit der Politik in der Behandlung der Kohlereviere und der Atomkraftkommunen im Rahmen des Energiewandels. Während bei der Umwandlung ehemaliger Kohlereviere Milliardensummen im Raum stehen und Jahrzehnte andauernde Strukturmaßnahmen geplant sind, rutschen die Standortkommunen und Landkreise der ehemaligen Kernkraftwerke nach dem Abschalten schnell aus dem Fokus der großen Politik“, betont der Landrat. Diese Entwicklung wird auch durch die räumliche Struktur der über die gesamte Fläche der Bundesrepublik verteilten AKW-Standorte erleichtert, die zudem über einen mehrjährigen Zeitraum zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgeschaltet wurden und werden. „So entsteht in der Öffentlichkeit eher der Eindruck von lokalen Ereignissen, die einzeln auch schnell wieder aus der Aufmerksamkeitsspanne der Medien herausfallen,“ erklärt Adomat. „Die regionalen, oft auch bundeslandübergreifenden Strukturen erschweren den politisch Verantwortlichen zudem die Zusammenarbeit und reduzieren im Verhältnis zu den traditionellen Kohleabbaurevieren, bei denen viel mehr Menschen beschäftigt waren, die mediale Durchschlagskraft. So gerät das Thema Rückbau und Umwandlung der AKW-Standorte als gesellschaftliche Herausforderung völlig aus dem Blick.“ Der Rückbau, der je nach Anlage zwischen 15 und 20 Jahre dauern wird, wird zum Thema zwischen Betreiber, Kommune, Landkreis und einiger Aufsichtsbehörden erklärt“, kritisiert der Landrat. „Dabei gibt es derzeit keine befriedigenden Lösungen für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Die Bevölkerung und betroffenen Kommunen und Landkreise müssen noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte nach Schließung der AKWs mit Unklarheiten, Sicherheitsrisiken und eingeschränkten Entwicklungschancen leben. Hier ist der Bund in der Pflicht.“ Es sei deshalb erforderlich, dass sich die betroffenen Kreise und Kommunen eng miteinander austauschen und gemeinsam auftreten. „Unser „Bündnis Hamelner Erklärung“ von 2014 könnte durchaus als Muster für eine abgestimmte Vorgehensweise dienen.“
Rückbau behindert Zukunftsentwicklung für zwei Jahrzehnte
Der Landrat betont außerdem, dass es ihm keineswegs nur um Ausgleichleistungen in Form von Geld geht. „Ich möchte das von vorneherein klarstellen. Die betroffenen Städte und Landkreise benötigen langfristige und großdimensionierte Entwicklungsperspektiven für die gesamte Infrastruktur. Zusätzlich sollte der Gewerbesteuerausfall während der Rückbauphase ausgeglichen werden. Denn die jeweiligen Kommunen und damit indirekt auch die dazugehörigen Landkreise verlieren nach der Abschaltung der Stromproduktion hier Einnahmen, können aber aufgrund der belasteten Flächen für 15 bis 20 Jahre nicht anderweitig planen.“
Gesellschaftliche Spannungen erfordern gute Lösungen und intensive Kommunikation
Atomkraft war immer umstritten und hat vielfach in den Standortregionen zu politischen und sozialen Verwerfungen geführt. „Bei uns im Landkreis Hameln-Pyrmont ist allen politisch Verantwortlichen und Interessierten die sogenannte „Schlacht um Grohnde“ am 19. März 1977 mit rund 20 000 Teilnehmern, darunter etwa 4000 Polizeibeamten, immer noch in denkbar schlechter Erinnerung“, so der Landrat. Die Situation sei auch Jahrzehnte danach nicht völlig befriedet. Die Rückbauphase werde eine große politische und kommunikative Herausforderung für alle Akteure, die den Übergang zur Normalität nicht erleichtere. Außerdem seien die entscheidenden strittigen Fragen um die Kernkraft mitnichten gelöst. Auch in den stillgelegten AKWs lagert radioaktiver Abfall, für den es derzeit keine Entsorgungsmöglichkeit gibt. Auch nach der Stilllegung des Erkundungsbergwerks Gorleben gibt es weiterhin kein nationales Atommülllager. „Für mache Standorte, darunter auch Grohnde, bedeute dies, dass für „schwach- und mittelradioaktive Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeentwicklung“ neue Zwischenlager gebaut werden müssen, weil sonst überhaupt kein Rückbau erfolgen kann“, blickt Dirk Adomat voraus. „Von einer Normalisierung der Situation an den AKWStandorten kann deshalb in den kommenden eineinhalb Jahrzehnten und möglicherweise weit darüber hinaus keine Rede sein. In der AKW-Nähe bleiben deshalb eine kommunale Wohnbau- und Gewerbeplanung oder eine weitere Infrastrukturplanung bis auf weiteres schwierig, denn die Vorbehalte bezüglich sicherer Lagerung von radioaktiven Abfall bleiben bestehen.“
Klare Forderungen an die Politik
Angesichts dieser Thematik fordert der Landrat von Hameln-Pyrmont zweierlei: “Ich erwarte von der Bundespolitik zum einen ein grundsätzliches Förderprogramm für die betroffenen Kommunen und Landkreise, das sie speziell in der Rückbauphase unterstützt. Zur genauen Analyse der Situation wäre deshalb der regelmäßige Austausch mit den kommunalpolitischen Verantwortlichen an den jeweiligen Standorten erforderlich. So könnte man beispielweise die Fortschritte der jeweiligen Vorgehensweise betrachten und voneinander lernen. Darauf aufbauend fordere ich eine individuelle Förderung jedes AKW-Standortes in der Rückbau-Phase. Dabei müssen die konkrete Situation vor Ort analysiert und spezielle Lösungen entwickelt werden. Politik und Bevölkerung der jeweiligen Region haben über Jahrzehnte die Risiken der Kernkraft für das ganze Land getragen. Jetzt sollten sie auch in ihrer Entwicklung bestmöglich unterstützt werden. Dabei könnte ich mir durchaus auch die Ansiedlung von „Leuchtturmprojekten“ in den Bereichen moderner Energieproduktion oder Klimaschutz vorstellen.“